Oanas Weg:

Vom Aushalten zum Verstehen – wie der Maastricht-Ansatz Türen öffnete

Es gibt Geschichten, die uns berühren, weil sie Mut, Hoffnung und Zuversicht in sich tragen und weil sie zeigen, dass Veränderung möglich ist, selbst dort, wo lange Zeit nur Stillstand schien.
Oana erzählt so eine Geschichte und nebenbei scheint sie offensichtlich immer mehr mehr Leute mit ihrer Erzählung in den Bann zu ziehen, dabei erzählt sie nur von ihrem eigenen Lebensweg. Seit Kindheitstagen schlägt sie sich mit Stimmen in ihrem Kopf herum – oft laut, bedrohlich, zersetzend. Klinikaufenthalte, Diagnosen, Nebenwirkungen bringen dabei nur wenig Entlastung. Und doch  hält sie an kleinen Schritten fest: Schule, Matura, Universität. Der Wendepunkt kommt, als sie aufhört, gegen die Stimmen zu kämpfen – und anfängt, ihnen zuzuhören. Nach Jahren der Angst erkennt sie: Die Stimmen sprechen in Bildern und Rätseln – und sie sprechen von Erfahrungen, die gesehen werden wollen. Mit der Zeit nennt sie einige von ihnen sogar „Freund:innen“ und „Familie“. Diese Innensicht ist der rote Faden ihrer Genesungsgeschichte.

Bild: Vortrag von Oana in Graz im Oktober 2025

Worum es beim Maastricht-Ansatz geht

Der Maastricht-Ansatz wurde maßgeblich von Marius Romme und Sandra Escher in Zusammenarbeit mit Betroffenen entwickelt. Er stellt das traditionelle, rein symptomorientierte Verständnis auf den Kopf: Stimmenhören ist nicht automatisch ein Krankheitssymptom, sondern eine menschliche Erfahrung, die Sinn hat – oft in Bezug auf Lebensereignisse. Ziel ist, diesen Sinn gemeinsam zu erkunden und tragfähige Bewältigungswege zu finden. Dazu gehört das strukturierte Maastricht-Interview, mit dem Betroffene ihre Stimmen – Inhalte, Auslöser, Kontexte, Beziehungen – systematisch „kartieren“, um so konkrete, alltagsnahe Strategien zu entwickeln.

Kernprinzipien sind dabei:

   Akzeptanz statt Verdrängung – die Erfahrung wird ernst genommen und nicht entwertet.

   Bedeutung statt bloßer Pathologie – Stimmen werden im Lebenskontext verstanden (Trauma-, Stress-, Beziehungserfahrungen).

   Gemeinsame Sinnkonstruktion – das Maastricht-Interview strukturiert die Exploration und leitet praktische Schritte ab (Coping, Aushandlung von Grenzen, Dialog).

„Mit Stimmen sprechen“ – der Dialog als Türöffner

Ein bekannter Baustein ist das „Sprechen mit Stimmen“ (Talking with Voices). In einem begleiteten inneren Dialog werden Motivationen, Funktionen und Bedürfnisse einzelner Stimmen exploriert. Ziel: Abstand gewinnen, Grenzen aushandeln, Kooperation ermöglichen – manche Stimmen werden mit der Zeit unterstützend. Dieser Zugang baut auf Voice-Dialogue-Techniken auf und stärkt Selbstwirksamkeit und Wahlfreiheit der Betroffenen.

Oanas Erfahrung mit dem Ansatz

Als Oana auf Ressourcen der Hearing-Voices-Bewegung stößt (u. a. die TED-Erzählung von Eleanor Longden), findet sie Bestätigung für ihren Weg: akzeptieren, zuhören, verstehen. Später besucht sie Workshops zu Experience Focused Counselling (EFC) – einem recovery-orientierten, traumasensiblen Beratungsansatz aus dem Hearing-Voices-Kontext, der Elemente des Maastricht-Ansatzes aufgreift (Sinnarbeit, Lebenskontext, Dialog). Dort erlebt sie erstmals, wie normalisierend, respektvoll und humorvoll mit ihren Stimmen gearbeitet wird – bis hin zum direkten Austausch mit ihrer furchteinflößendsten Gestalt, dem „Sensenmann“, der schließlich einen Platz in ihrer inneren Bibliothek bekommt.

Was die Forschung und Praxis zu EFC und Maastricht zeigen

   Trauma- und Lebenskontext: Die Hearing-Voices-Bewegung und der Maastricht-Ansatz verorten Stimmenhören klar im Lebenslauf und betonen Sinn- und Kontextbezug statt reiner Pathologisierung.

   Maastricht-Interview: Strukturierte Exploration unterstützt Betroffene dabei, Muster, Auslöser und Bedeutungen zu erkennen – Grundlage für maßgeschneiderte Coping-Pläne.

   Experience Focused Counselling (EFC): Qualitative Studien berichten von Nützlichkeit über Diagnosen hinweg, traumasensibler Arbeitsweise und erlebter Passung im Alltag der Betroffenen; EFC wird als transdiagnostisch beschrieben und ergänzt die Regelversorgung. (Hinweis: Es handelt sich überwiegend um qualitative, kleinere Studien – die Evidenzlage wächst, ist aber nicht mit großen randomisierten Studien vergleichbar.)

Was das für Oana bedeutet – und für andere

Oanas Geschichte zeigt, wie Selbstmitgefühl, Neugier und Struktur zusammenwirken können. Indem sie ihren Stimmen Raum gibt, ihre Bedeutungen erforscht und Grenzen aushandelt, gewinnt sie Orientierung und Kraft für den Alltag: Studium, Arbeit, Gruppenmoderation – und das Wissen, dass neue Stimmen nicht das Ende der Genesung bedeuten, sondern mitunter ein Hinweis, tiefer zu verstehen.

Für Organisationen, Angehörige und Fachpersonen heißt das:

   Zuhören und ernst nehmen.

   Bedeutungen gemeinsam erschließen (z. B. mit dem Maastricht-Interview).

   Dialog fördern (Talking with Voices) und Selbstwirksamkeit stärken.

   Recovery als Haltung – nicht linear, aber möglich.

„Genesung passiert nicht an einem Nachmittag – sie braucht genau die Zeit, die sie braucht.“
Diese Haltung prägt Oanas Weg und inspiriert andere, vom Aushalten zum Verstehen zu finden.

 

Quellen

Corstens D. et al. Emerging Perspectives From the Hearing Voices Movement. Psychiatric Services (2014). Überblick zu HVM, Kontext und Prinzipien.

Dirk Corstens: Maastricht Approach & Talking to the Voices. Kurzbeschreibungen zu Ansatz und Dialogpraxis.

Maastricht-Interview (engl. Fragebögen/Manual-Versionen).

Schnackenberg J. (2018): Studien zu Experience Focused Counselling (EFC) – qualitative Evidenz, traumasensitive Merkmale.

Longden E.: TED-Talk & Lesetipps – Betroffenenperspektive und Ressourcen.

Wikipedia-Überblick zur Hearing-Voices-Bewegung (als Einstieg/Übersicht, nicht Primärquelle).

Bleiben Sie auf dem Laufenden! Abonnieren Sie unseren kostenlosen Dachverband-Newsletter...

Sagen Sie Hallo!

Lernen Sie uns kennen.