Karin Kornprobst im Interview

Mit Menschlichkeit aus der Krise: Der Offene Dialog

Wir haben Mag.a Karin Kornprobst, Klinische Psychologin und Gesundheitspsychologin getroffen. Sie ist Obfrau des Vereins Offener Dialog Österreich und hat mit uns darüber gesprochen, was es mit dem neuen Ansatz des "Offenen Dialogs" auf sich hat. 

IDEE Austria: Liebe Frau Mag.a Kornprobst, Sie sind Klinische und Gesundheitspsychologin sowie Obfrau des Vereins Offener Dialog Österreich. Was ist Offener Dialog und wie sind Sie dazu gekommen?

Das ist eine große Frage und darüber könnte ich sehr viel erzählen. Ich versuche mich kurz zu halten 😊

Die sogenannte bedürfnisangepasste Behandlung und der Offene Dialog (OD) sind in den 1980er Jahren in Finnland entstanden. Beide Modelle der Behandlung begannen mit der Versorgung von Menschen mit einer Psychose und zeichnen sich durch sofortige und flexible Hilfe, die ausdrückliche und rasche Einbeziehung der Familie und weiterer Bezugspersonen, mit  dialogischer Offenheit möglichst zu Hause, einer personell kontinuierlichen Betreuung durch ein multiprofessionelles Team und eine möglichst niedrige dosierte Psychopharmakotherapie aus. Die psychologische Kontinuität entsteht vordergründig  durch den gemeinsamen erlebten dialogischen Prozess. Dabei liegt der Fokus der Netzwerkgespräche primär auf der Förderung von Dialogen, in denen jede*r gehört werden kann, damit neue Bedeutungen von Symptomen und die gemeinsame Erfahrung dieses Prozesses entstehen.

Die Idee dahinter war es, eine Psychiatrie im Lebensumfeld des Menschen zu bauen, die den räumlichen Kontext (vertraute Umgebung) aufsucht, den sozialen Kontext (wichtige Bezugspersonen) von Beginn an mit einbezieht und damit stationäre Aufenthalte und zwangsweise Unterbringung vermeidet. Damit stand und steht im Vordergrund die Normalisierung statt der Psychiatrisierung und Pathologisierung. Es entstand sozusagen ein neuer Ansatz, vielmehr eine neue Haltung im Umgang mit Menschen in psychosozialen Krisen.

Die Methode des Offenen Dialogs ist mir vor vielen Jahren begegnet, es war die Zeit, als ich beruflich im sozialpsychiatrischen Feld tätig geworden bin. Damals als Betreuerin in einer Wohngemeinschaft des Verein LOK, Leben ohne Krankenhaus. Das Kennenlernen der  psychiatrischen Versorgungslandschaft in Wien hat mich von da an sehr beschäftigt, da ich den Eindruck hatte, dass hilfesuchende Menschen mit psychiatrischer Diagnose weniger als Menschen in interaktionellen Systemen, sondern vordergründig als Patient*innen mit einer Erkrankung gesehen wurden, die es zu behandeln galt, mit Psychopharmaka, auf einer biologischen Ebene.  Meine Beobachtung war, dass im Krankenhaus aufgenommen, nicht mit ihnen, sondern vielfach über sie gesprochen und hinweg entschieden wurde. Da hat meine Suche begonnen, eine Suche nach Antworten auf die Frage, wie eine alternative, integrierte Versorgung mit einer würdevollen Begegnung von Mensch zu Mensch, unabhängig von hierarchischen Strukturen gestaltet werden kann, sowohl im stationären, als auch ambulanten Setting.

Durch Zufall bin ich vor etwa 15 Jahren auf einen Lehrgang zum Offenen Dialog in Wien gestoßen, der all diese Aspekte für mich erfüllte und Antworten auf all meine Fragen geben konnte. Leider ist der Lehrgang damals nicht zustande gekommen und es sind erneut einige Jahre vergangen, bis ich die Möglichkeit hatte, einen Lehrgang in Freiburg zu besuchen.

Es war wohl eine der bereicherndsten Ausbildungen, die ich im Laufe meines beruflichen Lebens besucht hatte und unterstützt durch den Verein LOK, Leben ohne Krankenhaus, und zwei weiteren Kolleg*innen, war es mir möglich, die Methode des OD innerhalb der Organisation weiter zu verbreiten und als Angebot für Menschen in psychosozialen Krisen zu etablieren.

IDEE Austria: Was ist für sie das Besondere am Offenen Dialog und macht ihn für sie  einzigartig?

Als aller erstes fallen mir drei Worte ein, die ich mit dem Offenen Dialog verbinde: echte dialogische Begegnung, Menschlichkeit, Tiefe. Im Offenen Dialog geht es um eine ganz besondere Haltung in der menschlichen Begegnung. Es ist eine Haltung des Verstehens,  ein dabei sein, mit sein, räumlich und emotional. Es geht um ein Mitschwingen, im Sinne von präsent sein, also bei sich sein und beim anderen sein. Ich bin neugierig, ich lasse mich vom Gegenüber als Person berühren, spüre feinfühlig und achtsam persönliche Dimensionen auf und stelle eigene emotionale Resonanzen auf das Gegenüber bzw. das Gehörte zur Verfügung. Ich bin sozusagen offen für jede andere Welterfahrung, ich nehme die Wahrheit des anderen innerlich an, ohne sie zu deuten, zu verändern. Diese innere Beteiligung kann sehr besondere Begegnungsmomente ermöglichen, und zu ungeahnten Entwicklungen führen.

Es gibt viele Anwendungsformen des Offenen Dialogs, die wichtigste davon ist das Netzwerkgepräch. Ein Netzwerkgespräch ist ein Gespräch, welches ca. 90 Minuten dauert und zu dem - von dem*der Klient*in, dem*der Angehörigen weitere private und professionelle Bezugspersonen eingeladen werden. Dies hilft oft bei der Kommunikation untereinander und kann Beziehungen stärken. Durch den offenen Austausch mit anderen Beteiligten entstehen manchmal auch neue Ideen und Perspektiven, die den*die Klient*in auf dem eigenen Genesungsweg unterstützen, oder frischen Wind in scheinbar festgefahrene Situationen bringen. Die Moderation des Gesprächs wird von einem Moderationsteam von 2 Moderator*innen übernommen, welches in der Methode des Offenen Dialogs ausgebildet ist.

Der dialogische Raum im Netzwerkgespräch eröffnet ein miteinander Reden, der oft in unserer Kultur und in Beziehungen fehlt. Es ist ein Raum, in dem es um echte Begegnung geht und wo Zeit da ist, um in die Tiefe zu gehen, Verständnis zu entwickeln und um die Worte und Bedeutungen jeder Person im Netzwerk nachzuvollziehen. Noch nie Gesagtes kann ausgesprochen und gehört werden. Dies erweist sich als erstaunlich hilfreich, denn im Gehört und Gesehen werden liegt eine unterschätzte Kraft. Die Moderator*innen versuchen, diesen Raum zu halten, in welchem auch Ängste, Ärger, Konflikte, Schmerzhaftes und Unsicherheit ausgedrückt werden können.

Ein wesentlicher Aspekt des Netzwerkgesprächs ist es auch, keine Lösungen vorzugeben bzw. Lösungsrichtungen zu beeinflussen. Es geht darum, den Boden für Verständigung und sich einfühlen zu schaffen, darauf zu vertrauen, dass das Netzwerk in der Lage ist, den nächsten Schritt zu finden, Ideen zu entwickeln, wie weiterkommen und eine Spur aus der Krise zu finden.

Das methodische Vorgehen ist also ein Wechsel von Fragen stellen, aktivem Zuhören, sich jede Stimme verständlich machen und Antwort geben durch ein echtes Interesse an dem, was jede Person im Raum zu sagen hat. Unterschiede werden transparent gemacht, Subjektivität und Vielstimmigkeit werden als förderlich für den Prozess gesehen.

Diese vielen Aspekte machen den Offenen Dialog für mich sehr besonders, faszinierend und sinnvoll.

IDEE Austria: Wo wird Offene Dialog bereits gelebt?

Die Anwendung des Offenen Dialogs in Österreich steckt aus meiner Sicht noch in den Kinderschuhen, im Vergleich zu anderen Ländern wie Finnland, England, Deutschland und anderen europäischen Ländern. Hier gilt es, v.a. was das selbstverständliche Angebot im stationären Setting angeht, noch viel Aufklärungs- und Öffentlichkeitsarbeit zu leisten. Und es ist eine Frage der Finanzierung. In Deutschland z.B. gelingt die Umsetzung der Praxis des Offenen Dialogs im Rahmen eins neuen Finanzierungssystems der „integrierten Versorgung“ und in Kliniken mit regionalem Budget. Ich denke, bereits einzelne Netzwerkgespräche im Rahmen der üblichen stationären oder ambulanten Versorgung können eine entscheidende therapeutische Wirksamkeit haben.

Erste Ansätze der Umsetzung im ambulanten Bereich im Sinne eines Angebotes von Netzwerkgesprächen gibt es in den letzten Jahren in Wien im Verein Windhorse, Verein HPE (Hilfe für Angehörige psychisch Erkrankter), Verein LOK (Leben ohne Krankenhaus). Weitere Angebote etablieren sich derzeit in der Steiermark (Aufbau eines Moderator*innenpools). Auch selba – die mobile sozialpsychiatrische Betreuung der Chance B wendet die Methode in Netzwerkgesprächen an. Auch der Verein Angehörige helfen Angehörigen beginnen mit der Umsetzung. Netzwerkgespräche werden dabei als ergänzende Intervention bei unterschiedlichen Problemlagen angeboten oder zur gemeinsamen Entwicklung eines abgestimmten Krisenplanes oder Begleitens in Krisen.

Der kürzlich gegründete Verein Offener Dialog Österreich hat es sich zum Ziel gesetzt, eine nachhaltige Etablierung des offenen Dialogs in Österreich aktiv voranzutreiben und eine Vernetzung von Menschen und Organisationen, die den offenen Dialog bereits umsetzen zu ermöglichen, auch über die Landesgrenzen hinaus, zu schaffen. Dafür ist es einerseits notwendig, möglichst viele engagierte und an OD interessierte Menschen zusammenzubringen und gemeinsam an einer öffentlichen Verbreitung zu arbeiten. 

Der Verein Offener Dialog Österreich ist überzeugt davon, dass ein dialogisch orientierter Umgang mit psychosozialen Krisen möglich ist und für alle Beteiligten ein Gewinn sein kann: für die Klient*innen, für die Angehörigen, weitere Bezugspersonen und auch für Professionist*innen, denn sie verändert Team- und Organisationskulturen und erleichtert das gemeinsame Arbeiten mit Menschen in herausfordernden Problem- und Lebenslagen.

Potentiell krankmachende Gesellschaftsstrukturen lassen sich mit dem Ansatz des Offenen Dialoges sicher nicht auflösen. Aber das Gesundheitssystem selbst könnte dadurch eine gewisse Vorbildfunktion für die Humanisierung unserer Gesellschaft und der alltäglichen Sozialen Beziehungen bekommen, denn Veränderung geschieht vor allem durch Begegnungen und Begegnungsmomente.

IDEE Austria: Gibt es in Österreich die Möglichkeit die Methode des Offenen Dialogs zu erlernen?

Ja, es startet demnächst der zweite Lehrgang zum Offenen Dialog in Graz und es sollen noch weitere in den Bundesländern folgen. Veranstaltet wird der Lehrgang vom Verein Offener Dialog Österreich.

Es handelt sich hierbei um eine Basisfortbildung, die überinstitutionell, trialogisch und multiprofessionell zusammengesetzt ist. Es werden Techniken der Dialogförderung in Rollenspielen geübt und Selbsterfahrung gefördert. Auch werden Werkzeuge für die dialogische Teamarbeit mitgegeben.

Die Fortbildung dauert insgesamt 18 Tage und findet in 2-4 tägigen Workshops mit insgesamt 144 Stunden in Abständen von 6-8 Wochen statt.

Teilnehmende können Menschen mit Krisenerfahrung, Angehörige und Freund*innen, Sozialarbeiter*innen, Psycholog*innen, Psychotherapeut*innen, Ärzt*innen und Menschen, die an einem alternativen Umgang mit Krisen interessiert sind, sein.

 

Weiterführende Informationen zum Lehrgang (Curriculum) und ein Video über die Erfahrung von Teilnehmenden finden sich unter https://www.berani.at/offener-dialog/

Foto Karin

Bleiben Sie auf dem Laufenden! Abonnieren Sie unseren kostenlosen Dachverband-Newsletter...

Sagen Sie Hallo!

Lernen Sie uns kennen.