Mag. Dr. Hans-Jörg Hofer
TikTok und Co. – Eine potenzielle Gefahr für die psychosoziale Gesundheit von Kindern und Jugendlichen?
Wer sich über psychosoziale Inklusion und Gesundheit Gedanken macht und sich in diesem Kontext für Partizipation einsetzt, kann die Augen nicht vor der Tatsache verschließen, dass inzwischen zahlreiche Kinder und Jugendliche auf Plattformen wie TikTok unterwegs sind und damit einen mehr oder weniger großen Teil ihrer Freizeit verbringen. TikTok und Co. sind zu einer wesentlichen Quelle geworden, aus der viele Kinder und Jugendliche Informationen, Ideen und Anregungen beziehen. Wäre zumindest der überwiegende Teil dessen, was dort zu sehen und zu hören ist, nur halbwegs seriös und wirklich hilfreich, wäre das an und für sich kein großes Problem, da jede neue Generation auf die Medien und Möglichkeiten ihrer Zeit zurückgreift und Erwachsene auch nicht immer alles verstehen oder wissen müssen, solange sich ihre Sprösslinge keiner allzu großen Gefahr und keinen Verstößen geltender Gesetze aussetzen.
In letzter Zeit und aufgrund diverser Vorkommnisse im Rahmen von sogenannten „Challenges“ mehren sich allerdings die ohnehin kritischen Stimmen, die vor TikTok und Co. eindringlich warnen und zudem von einer realen Gefahr nicht zuletzt für die psychosoziale Gesundheit und Integrität von Kindern und Jugendlichen sprechen. Im US-Bundesstaat Montana ist TikTok zum Beispiel inzwischen verboten, während andere Staaten über Einschränkungen, Teilbeschränkungen oder Verbote lautstark nachdenken.
Egal, um welche Plattform es sich handelt, egal wer auch immer sie betreibt oder woher sie kommt etc., fest stehen jedenfalls unbestritten folgende Dinge:
1. Es macht etwas mit Kindern und Jugendlichen und deren psychosozialer Verfassung, wenn sie einen großen Teil ihrer Freizeit im Internet auf diversen Plattformen oder in bestimmten Foren verbringen. Etwas bleibt dabei immer auf der Strecke, weil virtuelle Begegnungen – inzwischen kann man/frau sich ja nicht einmal mehr dessen sicher sein, ob man/frau im Internet nicht mit einer gut konstruierten KI/AI kommuniziert oder mit echten Menschen – reale Begegnungen und Interaktionen nicht zu ersetzen vermögen. Durch die Konzentration auf soziale Medien im Internet sowie auf die dort angebotenen Plattformen und Foren entfällt ein gerade für Heranwachsende wichtiges Lernumfeld, das sowohl für die psychosoziale als entwicklungspsychologische Reifung unentbehrlich ist, möchte der Mensch das soziale und kooperative Wesen bleiben, als das er bislang galt.
2. Eine ständige Aufnahme auch nur fehlerhafter oder gar falscher Informationen, kruder und bizarrer Theorien, Gedanken und Ideen sowie Ideologien verändert mit der Zeit Denken, Wahrnehmen und Empfinden wesentlich, geschieht diese nicht mit den nötigen kognitiven Voraussetzungen und der gebotenen reflexiven Distanz zu den dargebotenen Informationen und Inhalten. Irgendwann kommt mit großer Wahrscheinlichkeit der Punkt, ab dem negative Auswirkungen auf das seelische Wohlbefinden und die psychosoziale Gesundheit für die Betroffenen erfahrbar und die Umwelt wahrnehmbar werden. Erste neuere wissenschaftliche Befunde deuten jedenfalls in diese Richtung und besteht kein Grund, an der Seriosität und Validität der erhobene Daten und Befunde zu zweifeln. Ansatz und Logik der betreffenden Studien sind auf jeden Fall nachvollziehbar und einleuchtend.
3. Psychische Resilienz und die Fähigkeit, Situationen und Probleme in all ihrer Ambivalenz und in all ihren Facetten adäquat und halbwegs realistisch wahrzunehmen, sind bei vielen psychosozialen Behinderungen, Erkrankungen und/oder Symptomatiken oftmals eingeschränkt. Trifft sich eine derartige psychosoziale Konstellation dann andauernd mit tendenziösen, einseitigen und/oder unwahren Inhalten, besteht für die betroffenen Kinder und Jugendliche ernsthaft die Gefahr, größeren Schaden als nötig zu nehmen und im schlimmsten Fall das gerade auch im psychosozialen Bereich so wichtige Recovery zu torpedieren, zu unterwandern und ganz zu verhindern.
4. Die Folgen für die Gesellschaft und das Zusammenleben sind evident und müssen hier nicht detailliert aufgezählt werden. Dass sich eine psychosozial immer belastetere, kränkere und unfähigere Gesellschaft irgendwann auch auf die Wirtschaft negativ auswirkt, ist eine direkte Folge davon und liegt notwendig in der Natur der Sache. Von Weitsicht zeugt es jedenfalls nicht, diesen Entwicklungen nicht mit aller Kraft und Anstrengung entgegenzutreten.
5. Phänomene der Gewalt gegen sich selbst oder gegen andere werden in dem Ausmaß zunehmen, in dem entsprechende Inhalte nach wie vor ohne wirksame Schutzmaßnahmen und Barrieren unbehelligt von Menschen konsumiert werden können, die a priori zu den Vulnerablen unserer Gesellschaft zählen. Sozial isolierte, marginalisierte und stigmatisierte Kinder und Jugendliche werden hier auch in Zukunft besonders gefährdet sein, da allein ihr sozialer Spielraum in einer reinen Konsum- und Leistungsgesellschaft oftmals extrem eingeschränkt und durch zahlreiche Unzugänglichkeiten geprägt ist.
Da es derzeit m. E. nicht den Anschein hat, dass in diesem Zusammenhang wirklich wirkungsvolle und flächendeckend auch Schritte gesetzt werden, stellt sich die berechtigte Frage, wie man Kinder und Jugendliche nachhaltig vor den Auswirkungen des Konsums besagter Medien wappnen kann, ohne zugleich in einen pädagogischen oder autoritären Gestus, die ohnehin meistens das Gegenteil selbst bester Intentionen evozieren, zu verfallen. Dabei geht es im Grunde genommen um nichts anderes als um die Herstellung einer gewissen Resilienz gegenüber gefährlichen und schädlichen Inhalten aller Art bei Kindern und Jugendlichen. Die Implementierung von erfahrenen Peers, die sowohl über Erfahrungen mit psychosozialen Krisen als auch über den Umgang mit diversen sozialen Medien verfügen, wäre hier zum Beispiel ein Schritt, den man/frau sich vorstellen könnte, um die eine oder andere Tragödie als direkte Folge von Challenges oder Irreleitung zu verhindern. Wichtig dabei wäre jedenfalls, dass die betreffenden Peers eine zusätzliche fundierte Ausbildung auf reflexivem Niveau erhalten und die Sprache ihrer Zielgruppe zumindest verstehen. Darüber hinaus darf die durchschnittliche Altersdifferenz zwischen Begleiter:innen und Begleitenden nicht allzu groß sein, da Glaubwürdigkeit vor allem bei jungen Menschen eine enorm wichtige Rolle spielt. Es sind ja auch andere junge Menschen, die in den diversen Medien und Foren ihre Geschichten und Challenges verbreiten und denen zum Teil blind gefolgt sowie unkritisch geglaubt wird. Dieser Faktor müsste auf jeden Fall Berücksichtigung finden und eingeplant werden.
Da sich die angesprochenen Zielgruppen allerdings hauptsächlich im Internet in diversen Foren und auf bestimmten Plattformen bewegen, wird es notwendig sein, Angebote zu schaffen, die sich dort ebenfalls zumindest teilweise finden lassen und unmittelbar zugänglich sind. D.h. in anderen Worten, dass sich dort auch Peers aufhalten müssen. Das beste Angebot wird keine auch noch so bescheidenen Erfolge tätigen, wenn es dort platziert ist, wo sich die entsprechenden Zielgruppen selten oder nie aufhalten, was in der Praxis natürlich eine Herausforderung sein kann und auch werden wird. Andererseits sind aber ständiges Monieren sowie Jammern über einen bestimmten Zustand, der sich bereits in der jüngsten Vergangenheit als bedrohlich im wahrsten Sinne des Wortes gezeigt hat, auf die Dauer auch keine Lösung und die Zeit scheint gerade in Bezug auf die psychosoziale Gesundheit von Kindern und Jugendlichen mehr als zu drängen.